Erinnerung an Karl Martin

Zur Erinnerung an den Gründer und langjährigen Vorsitzenden des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins, Dr. Karl Martin, der am 29. September 2014 nach schwerer Krankheit verstorben ist, geben wir hier die Worte wieder, die Dr. Detlef Bald beim Trauergottesdienst in Berlin an die Angehörigen und Freunde Karl Martins gerichtet hat:

Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl Martin

von Detlef Bald

„Je schöner und voller die Erinnerung,

desto schwerer ist die Trennung.“

Diese Worte von Dietrich Bonhoeffer verbinden uns heute am 18. Oktober 2014, zusammengekommen zu einem Trauergottesdienst hier in Berlin-Neukölln, wo die Herrnhuter Brüdergemeine uns als Gäste aufgenommen hat. Wir haben uns zum Gedenken an Karl Martin versammelt, der am 29. September 2014 das Zeitliche gesegnet hat. Eine Trennung, jede Trennung ist schwer, ja schmerzlich. So sind wir verbunden in aufrichtigem Mitgefühl besonders mit den Familien Daser und Martin, deren Angehörige in ihrer, in eigener Weise vom Verlust betroffen sind.

Wir sind heute an diesem Ort – wir, das sind Freunde und Bekannte aus den Wirkungsstätten von Karl Martin in Berlin, Wiesbaden und München, aus dem Dietrich-Bonhoeffer-Verein aus ganz Deutschland; wir sind hier, um unsere Dankbarkeit zu bezeugen für das, was Karl Martin uns gegeben hat: auf seinem ganz persönlichen Wege, das große Werk von Dietrich Bonhoeffer zu ergründen, hin zu der Vergewisserung, was christlicher Glaube für das eigene Leben bedeuten und sein mag. Aber vor allem auch, was das Werk von Dietrich Bonhoeffer für Gestalt und Praxis der Kirche bedeuten kann in dem Sinne ecclesia semper reformanda. Das ist das Stichwort, das Karl Martin zu Bonhoeffer führte.

Der Anstoß kam aus der beruflichen Erfahrung des Pfarrers, wie soll Seelsorge bei Soldaten gestaltet werden. Eine eigene Kirche in der Bundeswehr, organisiert vom Militär nach der Tradition der Militärseelsorge, oder eine aus den zivilen Gemeinden her erfolgende Betreuung der Soldaten, damit – eine Antwort auf die historischen Erfahrungen mit der sozialen Abkapselung des Militärs mit ihren militaristischen Konsequenzen – die Vielfalt der gesellschaftlichen Einflüsse garantiert würden. Für ihn bot ein pluraler Ansatz, der sich auf die Grundwerte bezog, Orientierung. Aus Sorge um die Entwicklung der Bundeswehr war er offen für Anstöße aus der Zivilgesellschaft, wenn es um Frieden als Weg und Ziel ging. Das war das Modell, das Karl Martin vorschwebte.

Ein derartiges Modell hatte im demokratischen Kirchen-Reform-Aufbruch direkt nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Rolle gespielt und war in den frühen fünfziger Jahren sogar Gegenstand der Verhandlungen zwischen den Kirchen und dem Amt Blank (der Vorläufer-Institution des Verteidigungsministeriums) gewesen, aber war an den gemeinsamen rückwärtsorientierten, beharrenden Interessen von Kirche und Staat dann schließlich gescheitert. Ebenso blieben Ansatz und Anregungen von Karl Martin an der Universität der Bundeswehr, eine solche Reform zu wagen, anstößig und – im Alltag der Bundeswehr und des Evangelischen Kirchenamtes mit der beharrenden Durchsetzungskraft der bürokratischer Herrschaft – nur eine Episode.

Doch ein unmittelbares Resultat dieser kontroversen Erfahrungen war der Anstoß für Karl Martin, den Reformpfarrer, neu das Werk von Dietrich Bonhoeffer anzuschauen, sich anzunähern und sich anzueignen. „Wer ist eigentlich dieser Dietrich Bonhoeffer?“, schrieb er rückblickend auf diese Zeit und fand die Antwort: „Es stellte sich heraus, Bonhoeffer war weit mehr als das, was von ihm (…) vermittelt wird.“ Und dann folgte die Erkenntnis: „Bonhoeffer ist hochverehrt, aber in den alltäglichen Entscheidungen des kirchlichen Lebens kaum befolgt.“ Diese Divergenz zwischen Idee und Wirklichkeit hat Karl Martin das Leben lang spannungsvoll begleitet; er war ein Kämpfer für seine Einsichten und Erkenntnisse, dafür zahlte er einen Preis, von anderen als herausfordernd, als kantig oder rebellisch angesehen zu werden.

Allein, Karl Martin sah sich in der Pflicht, Bonhoeffers Sentenzen auf die kirchliche und politische Gegenwart zu übertragen. Er nannte es die „Diesseitigkeit des Christentums“. Dazu diente auch die Gründung des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins im Jahre 1983, um aus dem Werk Bonhoeffers Anregungen zu schöpfen und diese als „gültige, in die Zukunft weisende Herausforderung zu kritischem Glauben, Denken und Handeln“ zu vertreten und in der Öffentlichkeit zu verbreiten. In diesem Sinne dokumentiert die Zeitschrift „Verantwortung“, erschienen seit 1986, einen Kern des Strebens, Bonhoeffers Vision nachzufolgen, „eine Kirche ist nur eine Kirche, wenn sie für andere da ist.“ So spiegeln Schwerpunkte der Arbeit im Dietrich- Bonhoeffer-Verein derartige Konkretionen wider, beispielsweise Ansätze zur Reform der Militärseelsorge und des Kirchensteuersystems, der Gestalt von Kirche und Gemeinde oder gerade, auch ökonomisch gesehen, einer gerechten Ordnung zur Bewahrung der Schöpfung. Also: Perspektiven für Reformen oder Reformen mit Perspektiven.

Karl Martin konnte Menschen ansprechen und begeistern. Seine Fähigkeit, andere mit seinen Anliegen zu berühren, verweist auf eine tiefe Wahrhaftigkeit. Dies spricht an, dies erreicht die ganze Person, dies setzt Kräfte frei. Auf diese Weise hat er persönlich Menschen um sich geschart – Mitstreiter für eine Sache, für seine Botschaft. In langen, langen Jahren war dies inspiriert von den Worten Bonhoeffers, auf der Suche nach einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens. Dieser Weg, in die Weite und Tiefe des Werkes von Dietrich Bonhoeffer einzudringen, hat Martin geleitet und seinem Wirken das Fundament gegeben. Immer weiter ging er voran, die eigentlichen Linien in der Theologie Bonhoeffers aufzuspüren – und andere damit anzusprechen und anzuregen. Dies wurde sein Lebenswerk. Aber in einer einzigartigen Weise, die gefundenen Impulse nicht nur weiterzureichen und Menschen damit zu bereichern, sein Leben war damit verbunden zu fragen, was soll Kirche in der modernen Welt sein. Welche Gestalt und Botschaft soll sie haben, um für die Menschen da zu sein?

Und da findet sich ein Punkt im Leben von Karl Martin – sein persönliches Leiden an der Kirche. Denn Kirche, wenn man sie nur ein wenig verändern oder gar reformieren will, zeigt eher die Beharrungskräfte des Alten, verkörpert in der Macht des Apparates und der Kälte einer Behörde, eben des verwaltenden Amtes, ganz formalistisch und andauernd. Davon mögen viele Beispiele erzählen. Wenn ich nur an die unendliche Geschichte denke, die mit der Veröffentlichung der Finkenwalder Dokumente verbunden ist – die zahllosen Enttäuschungen und die listenreichen Überraschungen, die Karl Martin und die Familie erfahren und ertragen mussten. So umfangreich und erfolgreich schließlich diese Arbeit war, sie konnte, wie so häufig, nur gelingen, weil er beharrlich, unbeirrbar dem eingeschlagenen Weg weiter folgte, um dem, wozu er sich berufen fühlte, nachzukommen.

Bis in die letzten Monate seines Lebens war Karl Martin davon bewegt, die Friedensbotschaft Bonhoeffers ganz zu erfassen und weiter zu geben. Noch in der Klinik hat er an einem solchen Grundsatzpapier gearbeitet. Angesichts der zunehmenden Aufwertung und Ausbreitung des militärischen Denkens und politischen Planens hielt er es für dringend nötig, an die Grundlagen der von der Bergpredigt ausgehenden Friedensethik bei Dietrich Bonhoeffer zu erinnern. Dabei fand er wichtig zu betonen, dass es zwischen Dietrich Bonhoeffer und Mahatma Gandhi hinsichtlich der Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit wesentliche Übereinstimmungen gibt. So gilt dieser Satz aus der Fanö-Rede: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn Frieden ist der Weg.“ Dieser Satz verlange Konsequenzen und Nachdenklichkeit in der Gegenwart.

Das alles, was Karl Martin angestoßen hat, konnte, wenn man ihn und sein Tun so beobachtete, nur mit ungeheurem Einsatz, mit Kraft und Arbeit, mit Ausdauer und mit Anstrengung gelingen. Man mag da staunen und es bewundern – doch er ging dies einfach an, fühlte er sich doch berufen; er schöpfte seine Kraft aus der Tiefe persönlicher Quellen, gewiss und vertrauensvoll getragen von dem, was Freiheit eines Christenmenschen bedeuten mag.

Im Dietrich-Bonhoeffer-Verein sehen wir nun und ahnen in etwa, welcher Umfang an Belastung und Organisation Karl Martin auf sich genommen hatte und, soweit ich das wahrgenommen habe, ohne Klagen täglich und täglich unverzagt erfüllte. Wir können uns nur bemühen, damit dieses Werk weiter gedeihen kann.

Wir haben viel „Gutes“ erfahren, denken wir an Karl Martin. Dieses „kostbare Geschenk“, mit den Worten von Dietrich Bonhoeffer, wird bleiben. Dafür sind wir dankbar. Wir vermissen ihn.